Kurzromane "Aus der Welt der Arbeit"


Lottmann hatte es sich in diesen vorweihnachtlichen Wochen angewöhnt,
seine Kollegen mit selbstgebastelten Witzchen zu versorgen. So neckte er
unlängst den Ex-Leipziger Prokuristen Meier die Frage, warum er in der DDR
damals keine Terroristen gegeben habe und beantwortete sie sogleich: "Weil
die hätten ja 17 Jahre auf ein Fluchtauto warten müssen."
Am heutigen Dienstagmorgen wagte es Lottmann nun auch im Lift hoch zur
7. Etage dem in Gedanken versunkenen Direktor Rösselmann ein heiteres
Rätsel aufzugeben: "Stellen Sie sich bitte vor: auf der Autobahn München-
Stuttgart rast eine schwarze Limousine mit 250 Sachen zwei Motorädern
hinterher. Was könnte das bedeuten?" Rösselmann zuckte gelangweilt, fast
verärgert mit den Schultern. Lottmann warf ihm einen sinnlosen, gespielt
vorwurfsvollen Blick zu und meinte: "Das sind zwei Bunte-Reporter  auf der
Flucht vor Guido Westerwelle...."



Lange stand Lottmann vor dem Eingang von Hugo´s, jener Eckkneipe, die
sich gegenüber dem monumentalen Konzernhauptgebäude von Direktor
Rösselmann befindet. Jetzt setzte er sich auf die Parkbank, schien zu
grübeln, sprang auf, griff sich dann wie ein von einer gnädigen Illumination
Gestreifter an die Stirn, kniete sich auf den Boden, wartete bis sich die Türe
der Schänke von innen öffnete und ging dann im Handstand Richtung Theke.
Der wangengerötete Wirt Hugo Schäfer fragte den früheren Feierabend-
Stammgast Lottmann kühl, was dieser Unsinn zu bedeuten habe. Keuchend
kam es von ganz unten: "Ich habe meinem Chef fest versprochen, dass ich
keinen Fuss mehr in deine Pinte setze und ein schnelles Helles...."



Lottmann war außer sich. Obwohl ihm seine Frau nach dem Morgentee
zwei Valium eingeflösst hatte und der frisch gefallene Schnee eine rosarote
Tönung angenommen hatte, spielte er auf dem Weg zur Arbeit mit dem
Gedanken, fristlos zu kündigen. Die gestrige Auseinandersetzung mit
Direktor Rösselmann - es ging um die wahrscheinliche Zukunft unter-
tariflicher Bezahlung - war das i-Pünktchen in einer Serie von Ungerechtigkeit
und Demütigung. kaum das er in seinem Büro Platz genommen hatte, klopfte
der Chef. "Das ist deine letzte Rettung, du rechthaberischer Bonze" dachte
sich Lottmann, "ich bin gespannt, wie du dich jetzt entschuldigst". Und in
der Tat: Rösselmann war verlegen. Umständlich fand er seine Sprache:
"Lieber Lottmann, ich habe heute Nacht lange über unseren Streit nach-
gedacht. Im Grunde war das totaler Quatsch." Lottmann reckte sein Kinn
in die Höhe. Der Boss fuhr fort: "Vor allem das, was Sie alles daher
gequatscht haben..."



Direktor Rösselmann hatte, mal ganz ordinär gesagt, die Schnauze
voll. Wie auch in den letzen Tagen kam Lottmann eine geschlagene 
Stunde zu spät in die Arbeit und zeigte nicht die Spur von Betroffenheit.
Der Chef zitierte ihn hoch in sein Büro und legte ohne lange Vorreden
los, "Gestern sind Sie zu spät gekommen, weil Ihr neues Auto gestreikt
haben soll. Vorgestern hörte ich, sind Sie offenbar in einem Stau stecken-
geblieben. Am Montag hat Ihre geschätzte Gattin die Schlüssel verlegt.
Hätten Sie die Güte, mit mal zu erzählen, was heute los war?" Lottmann
wiegte sein Köpfchen hin und her, räusperte sich kindisch und meinte
etwas stockend: "Schauen Sie, heute bin ich extra zu Fuss gegangen.
Und dann erwischte ich diesen hässlichen Gegenwind...."



Die Ereignisse des großen Weltgeschehens, Krieg, Angst und die
alarmierende Nähe zum Zivilisationscrash sorgten dafür, dass die
kleinen, internen Spannungen im Rösselmann´schen Konzern wie
weggeblasen waren. Man grüßte sich, man machte im Lift bereitwillig
Platz, man bot dem Kollegen an, ihn abends nach Hause zu fahren
und man sprach wieder miteinander - auch wenn die Gespräche nicht
immer sokratische Dimensionen erreichten. "Lottmann", sagte Direktor
Rösselmann etwas unvermittelt zu seinem Sorgenkind, "haben Sie
damals eigentlich gedient?" "Interessante Frage", antwortete der und
schien zu überlegen. "Nein. Dabei habe ich mit dem Musterungsarzt
um 2000 Mark gewettet, dass ich tauglich bin...."



Direktor Rösselmann kam mit dieser "Männer-unter-sich"-Pose die
Treppe herunter, pfiff dann ein dünnes Liedchen durch dünne Lippen,
klopfte etwas unmännlich an Lottmanns Türe und kam, während es sich
feuchtfingrig über den kahlen Hinterkopf strich gleich zur Sache:
"... und dieses Harrwuchsmittel ist wirklich das Beste auf dem Markt?"
Lottmann schaute konspirativ zur Türe, öffnete umständlich seine
Geheimschublade, entnahm dieser ein nacktes Fläschchen mit einer
uringelben Flüssigkeit und flüsterte: "Nur ein paar Tropfen auf einen
Bleistift, 10 Sekunden später können sie den als Zahnbürste
benutzen..."



Direktor Rösselmann wirkte in letzter Zeit reichlich zerstreut.
Dafür machte Lottmann einen weitgehend intakten Eindruck.
Es saß an diesem Nachmittag an seinem Schreibtisch und
schaute mit einem schläfrigen, halb bohrenden Blick ins Nichts.
Plötzlich trat der Chef in das Zimmer und trübte das Idyll.
"Welchen Antrag, Lottmann, bearbeiten Sie denn im Moment?"
fragte er. "Och, gar keinen", kam es wie aus der Pistole geschossen.
"Das ist schön", bemerkte der Direktor, "wenn Sie damit fertig sind,
können Sie Feierabend machen."



Direktor Rösselmann und Lottmann pflegten in den letzten Wochen
immer wieder mal in der Mittagspause so etwas wie gehobene
Konversation. Manchmal diskutieren die beiden Männer den Zerfall
des Euro, dann wieder das Ladenschlussgesetz und heute begann
der Chef bei Tellerfleisch, Brokkoli und kohlesäurearmen Wasser
von den Weltraumvisionen der Nordamerikaner zu schwärmen.
"Da steuern die von Houston aus ein kleines Auto über den Mars,
ist das nicht unfassbar, lieber Lottmann? Und überhaupt, seit ich
nachts immer da hoch schaue, staune ich über die Milliarden Sterne
am Firmament." Lottmann nickte servil und meinte: "Eben. Und das
sind ja nur die über den Schloss Landsberg..."